Film ab: Warum wir unser Leben wie einen Film betrachten müssen

28. Februar 2024, Wien.

Ich sitze in der Wohnung meines Bruders, draußen weht kalter Wind und der Himmel ist blass. Vor mir steht eine Tasse Tee. Der Baum vor dem Fenster hat keine Blätter. Die Welt erscheint, als hätte man einen grauen Filter drübergelegt.

“Was machst du jetzt?”, fragt mein Bruder. Er sitzt gegenüber mir, vor ihm steht ein Glas Wasser. Ich sehe ihn an, zucke innerlich mit den Schultern. Ich antworte in langen Satzreihen, zufällige Gedanken werden ausgesprochen. Ich bräuchte eine Arbeit, eine Wohnung, Studieren wäre auch nicht schlecht. In meinem Kopf schwirren mehr Fragezeichen herum als Raben am Feld. Überall Wirbel, überall Krawall. Es wirkt so, als wäre man kurz eingenickt und hätte mal acht Monate seines Lebens geschlafen. Man erinnert sich kaum an Ereignisse der vergangenen Monate, alles verblendet sich. Draußen wirkt die Luft mild und innen brodelts. Auf die Frage: Wo man denn unterwegs war, zählt man die Länder auf und hofft, keines vergessen zu haben. Man warf sich von einem Höhepunkt zum nächsten. Irgendwie eigenartig. Sätze werden unklar formuliert und verschachteln sich in wirren Aussagen. Man redet so viel und sagt so wenig. Man hatte Zeit, um herauszufinden, was man tun möchte, aber man schiebt diese Aufgabe immer auf. Wie ein Post-it, welches von Kalenderwoche zu Kalenderwoche weitergeklebt wird. Ablenkung und Prokrastination: Check. Plan für die Zukunft: Fehlanzeige.

Zwei Wochen vorher, 2. Februar 2024, Sri Lanka: Es ist heiß und trocken. Der Himmel ist blau, zu Mittag weht der Wind. Ich arbeite in einem kleinen Café in Weligama, Sri Lanka. Morgens und abends gehe ich surfen, am Abend treffe ich Freunde oder verbringe die Zeit am Strand. Ich führe ein sorgloses Leben. Die Tage werden nicht geplant. Man hantelt sich durch die Wochen wie ein Äffchen an der Liliane. Eines Tages komme ich mit einer Gruppe schwedischer Touristen ins Gespräch. Sie machen zwei Wochen Urlaub, um dem kalten Winter zu entkommen. Sie sagen, sie würden mich beneiden, weil ich hier leben kann.

Einige Monate zuvor wohnte ich auf Bali. Ich war in einem Surfcamp in Canggu tätig, einem trendigen Hipster-Städtchen und Surferoase an der Westküste Balis. Man könnte meinen, ich lebe den Traum vieler Rucksacktouristen: auf einer idyllischen Insel arbeiten, um die Rückfahrt nachhause hinauszuzögern. Alles kostenlos erhalten für nur wenige Stunden Arbeit am Tag. Wenn mich jemand auf Bali oder Sri Lanka getroffen hätte, könnte man vielleicht den Eindruck gewinnen, dass ich ein tolles Leben führe. Ich wirkte vielleicht voller Elan.

Und nun, einige Monate später sitze ich mit meiner Teetasse am Küchentisch in der Wohnung meines Bruders: kein Job, keine Wohnung, kein Geld. Was würden die Menschen, die mich auf Bali oder Sri Lanka kennengelernt hätten nun über mich denken? Auf Bali lernte ich eine junge Frau kennen. Sie hatte gerade ihr Studium abgeschlossen und wollte vor ihrem Arbeitsbeginn zwei Monate Südostasien bereisen. Sie war ein paar Jahre älter als ich gewesen und meinte, dass sie sich nicht in der Lage fühlt, jetzt mit dem Arbeitsleben zu starten. Sie würde gerne länger unterwegs sein, sie beneidete mich. Zuhause warte ein Job auf sie, eine neue Stadt, eine neue Wohnung. Als sie mir das mitteilte, sagte, ich schön es doch sei, wenn man etwas festes im Leben hat. Keiner von uns beiden war zufrieden mit der jeweiligen Situation, in der wir uns befanden. Wir gaben das nur nicht zu. Ich sah mich mittendrin in einem Aquarium voller Möglichkeiten, ohne Perspektive und ohne Richtung, ohne Ziele. In einer Bubble aus suchenden Rucksack-Touris und Partynächten, die am Morgen endeten. Sie würde nach ihrer Ankunft in in ihrer Heimat mit der vollen Dosis Vollzeit-Job konfrontiert werden.

Im Leben macht man viele flüchtige Begegnungen: Der Autofahrer, der einem die Vorfahrt nimmt, das Date, aus dem kein Zweites wurde, die neue Arbeitskollegin, die nach zwei Wochen wieder kündigt, die Frau in der U-Bahn, die einen anrempelt, der Freund der besten Freundin, der arrogant wirkt. Man lernt Menschen immer in einer bestimmten Situation kennen. Sie befinden sich in einem Zustand, genauso, wie wir es tun. Wir sind vielleicht gerade nervös oder extravertiert, sind nachdenklich oder in uns gekehrt, wir hatten einen stressigen Arbeitstag oder kämpfen mit einer Abhängigkeit. Wir hadern mit unseren Selbstzweifeln und Gedanken, haben gerade eine Beziehung beendet, den Job verloren, eine Weltreise hinter uns oder ein erfolgreiches Bewerbungsgespräch gemeistert. Wir wechseln unsere Zustände, wir durchlaufen Szenen. Wir erleben Momente der puren Euphorie und landen drei Monate später in einem Meer aus Zwiespalt. Wir denken, wir hätten nun alles richtig getan, just bevor wir alles verlieren. Wir entfliehen unserem Alltag, weil wir es nicht aushalten oder verbringen Zeit damit, den Träumen anderer nachzurennen. Wir verleugnen unsere Probleme oder finden uns in der Opferrolle wider. Wir ziehen in die erste eigene Wohnung und fühlen uns einsam. Wir beginnen ein Studium, weil es gut klingt und kommen mit der Zeit drauf, wie sinnfrei es eigentlich ist. Wir kehren von einem längerem Auslandsaufenthalt zurück und fühlen uns leer. Wir nehmen uns Dinge und verwerfen unsere Pläne auf den Haufen. Wir bekommen eine Jobabsage und denken, wir sind Versager. Wir haben unser Zeugnis in der Hand und planen die Flucht. Wir machen eine Fehlentscheidung und denken, wir würden nichts auf die Reihe kriegen. Wir umgeben uns mit Menschen, die uns nichts sagen oder verhalten uns eigenartig, weil wir unsicher sind. Wir machen Bemerkungen, die wir kurze Zeit später bereuen, behandeln Menschen nicht so, wie sie es verdient hätten. Wir lügen oder vermeiden, schweigen oder reden zu viel. Wir befinden uns in einem Kreislauf aus depressiven Stimmungen und einer Kreation von Horrorszenarien. Wir stehen vor einer wichtigen Entscheidung und wollen uns am liebsten aus dem Staub machen. Wir haben den Abschluss in der Tasche und sind überfordert mit den Tausend Möglichkeiten, die uns die Welt bietet. Die Welt liegt einem zu Füße, man erwischt sich selbst beim Herauszögern der eigenen finalen Entscheidung. Das Hin- und Hergerissen sein, das Spannungsverhältnis. Es könnte ja die Auswahl sein und wir würden als Unfähige dastehen.

Wir wechseln also Zustände im Leben.

Langanhaltende Betrachtungen.

Stell Dir bitte eine kurze Szene mit Deinem Lieblingscharakter einer Serie oder eines Filmes vor. Nur einen kurzen Ausschnitt, wo dieser Charakter zu sehen ist.

Glaubst Du, diesen Menschen zu kennen? Glaubst Du, Du wüsstest über seine Erfahrungen, Herausforderungen, Zweifel, Ängste, seinen Einfluss auf andere, sein Einfühlvermögen und seine vergangenen Schicksale Bescheid? Könntest Du ihn basierend auf dieser kurzen Szene verstehen? Würdest Du verstehen, warum er so handelt?

In der Welt der Kinos und der Romane werden wir mit den Hauptprotagonisten auf eine längere Zeit konfrontiert: Wir sehen, wie sie aussehen, wo sie wohnen, wen sie lieben und wie sie handeln. Wir erleben sie in traurigen Momenten oder wenn sie wütend sind. Wir sehen Szenen, wie sie leiden oder lachen oder weinen oder schreien. Wir sehen die Person verzweifelt, ängstlich oder euphorisch. Wir sehen, wie sie sich verhält, wenn sie sich wohlfühlt oder wenn sie unsicher ist. Wir sehen ihre Verletzungen bei längerer Konfrontation, ihre Schwächen, ihre Eigenheiten, ihre inneren Tumulten. Wir bekommen diese multidimensionale Erfahrung aufgrund der andauernden Gegenüberstellung mit der Rolle. Wir machen uns ein Bild dieses Menschen. Wir sympathisieren eher mit ihm, weil wir die Hintergründe kennen, das ganze Bild im Hinterkopf behalten. Wir sehen das Trauma, die Geschichte, die Fehler, die Zweifel, die Ecken und Kanten dieses Darstellers.

Wenn wir nun diese Linse auf die Menschen übertragen, die uns kurzweilig begegnen, kann man ein wenig mehr Verständnis aufbringen: Stell Dir vor, der Autofahrer, der Dir die Vorfahrt nahm, ist auf dem Weg ins Krankenhaus, weil sein Freund einen schweren Unfall hatte. Stell Dir vor, die Person, mit der Du ein Date hast, durchlief eine schwere Trennung und war scheinbar noch nicht in der Lage, jemanden Neues kennen zu lernen. Stell Dir vor, die Arbeitskollegin, die nach zwei Wochen gekündigt hat, kämpft mit Depressionen. Vielleicht denkst Du Dir jetzt: Warum ist das mein Problem, wenn sich andere in solchen Situationen befinden? Der Grund ist: Wir wissen nie die genauen Hintergründe der Handlung eines Menschen, wir gehen jedoch immer vom Schlimmsten aus. Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs eines Menschen. Wir nehmen uns keine Zeit für Reflektion. Möglicherweise ist unser Bauchgefühl korrekt, vielleicht ist unsere Perspektive jedoch völlig fehlgeleitet. Es kann sein, dass unsere Beurteilung einer Person zutrifft, oder es könnte sein, dass wir uns gänzlich irren. Wir denken oft, wir würden Menschen kennen, aber wir tun es nicht. Wir fokussieren uns so sehr darauf, eine Person basierend auf einen Zustand zu beurteilen, dass wir uns jeglicher näherer Betrachtung entziehen. Wir müssen nicht andauernd alles reflektieren, oder überdenken, ganz im Gegenteil. Was ab und zu fehlt, ist die Betrachtung aus der Distanz: Vielleicht kann es helfen, Mitmenschen und vor allem sich selbst eine Kluft zwischen eigener Wahrnehmung und dadurch resultierender Beurteilung zu kreieren. Diese Idee hilft besonders dann, wenn es uns schwer fällt, etwas zu akzeptieren. Nicht nur bei anderen, sondern auch bei uns selbst.

Es gibt Episoden, in denen wir uns schlecht fühlen, verstecken wollen oder uns zutiefst schämen. Es gibt Folgen von unnötigen Bemerkungen oder impulsivem, irrationalem Verhalten. Es gibt auch Situationen von denen man wünschen würde, sie wären nie passiert. Wir gehen hart ins Gericht, weil uns Akzeptanz und Verständnis so schwerfallen. Akzeptanz kann aber Motor sein. Motor fürs Handeln. Die Herangehensweise kann durchaus auch einen selber helfen. Nicht nur wenn es um andere geht, sind wir vorn dabei mit voreiligem Urteil, positiv als auch negativ. Manchmal steht man sich selbst im Weg, wenn man sich in Momente des inneren Konflikts befindet. Wenn einem selbst oft die Akzeptanz fehlt. Self-Help-Ratgeber, Bücher zur Persönlichkeitsentwicklung, Podcasts über die mentale Gesundheit werden zur Zeit in Häufen produziert und konsumiert. Die Nachfrage nach Hilfe für Eigenhilfe ist groß. Kein Wissen der Welt wird Veränderung hervorrufen. Kein Buch, kein Podcast, kein Gespräch, keine Begegnung, kein Seminar, kein Interview, kein TED-Talk. Man muss widerholen, immer und immer wieder.

Warum wir unser Leben wie einen Film betrachten müssen

Ein Film hat einen Anfang und ein Ende. Zwischendrin gibt es unzählige Szenen, die das Ganze kreieren. Viele Szenen = ein Film. Wir durchleben die Szene bei vollem Bewusstsein. Jetzt gibt es ab und an Szenen, also Etappen im Leben, auf die man gerne verzichten würde. Oder Szenen, in denen man gerne besser performt hätte, sich besser verhalten hätte, eine andere Entscheidung getroffen hätte. Diese Szenen, nennen wir sie off-scenes, lösen ein bitteres Empfinden bei uns aus. Sie erwecken Erinnerungen, die man hätte vermeiden können oder lösen Reue, Unmut, Scham oder Bedauern aus. Wenn wir nun einen Schritt zurück gehen und diesen Zustand wie eine Szene in einem Film mit Spielfilmlänge betrachten, kann es dabei helfen, den Fokus weniger auf diese eine Szene zu richten und mehr das Große und Ganze im Blick zu haben. Man geht vom Kleinen ins Große über. Wie ein Puzzleteil: Ohne diese eine Szene, wäre das Puzzle nicht komplett. Ohne diese Szene im Kasten, wäre der Film nicht so, wie er eben ist. Ohne diesen Zustand, wäre man nicht die Person, die man nun halt ist.

In Zeiten der Unsicherheit und des Zwiespalts half es mir, ab und zu die Situation aus einer Weitwinkelperspektive zu betrachten. Aus einer Distanz das Chaos der Gedanken, Emotionen und Ideen im Kopf wahrnehmen. Ich habe mich in den Zuschauerbereich gesetzt, habe die Bühne, das Licht, die Requisiten, die Geräusche und Gerüche von dort aus registrieren. Ich konnte durch diese Gewohnheit mehr Klarheit erfahren, weil ich wusste, dass das nur ein Teil ist des gesamten Bühnenstückes. Eine Szene des Filmes. Kein Schönreden, kein Jammern, einfach nur beobachten.

Das Leben wie einen Film zu sehen kann dabei helfen, die Szene, die man gerade durchläuft mit etwas mehr Nüchternheit zu erleben. Man behält die Tatsache im Kopf, dass nichts für immer bleibt. Dann nimmt Dir halt jemand den Vorrang, was solls, solange kein Unfall passiert? Dann hast Du halt einen Abend mit einer Person verbracht, mit der Du wenig anfangen konntest, na und? Dann verschwindet die Arbeitskollegin, was willst Du tun, ihr den Weg versperren?

Vielleicht bist Du gerade wieder zu Deinen Eltern gezogen, vielleicht durchlebst Du gerade eine Trennung, vielleicht hast Du die Aufnahmeprüfung nicht bestanden, vielleicht hast Du gerade erfahren, dass Du nicht in die nächste Bewerbungsstufe aufgenommen wurdest, vielleicht hat sich Deine Ex-Freundin einen neuen Partner geangelt, vielleicht denkst Du, Dein Leben stagniert oder bewegt sich rückwärts, vielleicht vergleichst du dich mit anderen in deinem Alter, die natürlich alle so viel erfolgreicher und glücklicher sind, vielleicht bist Du überfordert mit den nächsten Karriereschritten, vielleicht wurdest Du gekündigt und schämst Dich dafür, vielleicht hast Du im Moment keine Freunde, vielleicht haderst Du mit einer Abhängigkeit, vielleicht hast Du die Arbeitsstelle nicht bekommen oder machst zurzeit einen Job, der nur die Rechnungen bezahlt. Vielleicht überfordert dich das Weltgeschehen, der Zwiespalt aus eigenen Zielen und die Erwartungen des Umfelds, vielleicht bist du orientierungslos und denkst, alle anderen sind schon viel weiter im Leben. Vielleicht fühlst Du sich einsam oder verzweifelt oder gelangweilt oder verwirrt. Geh ein paar Schritte zurück und setz Dich sich in den Zuschauerbereich. Erfasse die Lage, halte die Beurteilung, gegenüber Dich selbst und anderen, ein wenig zurück.

Viele Szenen machen den Film aus, nicht umgekehrt.

Regina Mader

Regina Mader

schreibt und liest gerne. In ihrer Freizeit geht sie wandern und laufen. Aufgrund ihres derzeitigen Wohnortes fällt die Zahl der potenziellen Bergtouren spärlich aus. Das Einzige, was erklimmt werden kann, ist der Bisamberg oder das Riesenrad. Letzteres ist mehr schlecht als recht. Dafür gibt es in Wien schöne Gebäude. Sie kreierte Salty Mountain, um Gedanken loszuwerden und Denkanstöße zu schaffen.

https://www.saltymountainclub.com/
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